Die „Theatralische Sammlung“, Wien: Johann Joseph Jahn, 1790–1798

Die „Theatralische Sammlung“ ist eine mehr als dreihundertbändige Sammlung von Theaterstücken, die in der Buchhandlung des privilegiertem Universitäts-Buchdruckers Johann Joseph Jahn im Gundelhofe Nr. 534 in der heutigen Ertlgasse 4, identisch mit dem Bauernmarkt 16 und identisch mit der Kramergasse 11 [vgl. Messner I, 129], in den Jahren 1790 bis 1798 erhältlich war. Die einzelnen Titel stammen teils aus Jahns eigener Druckerei, teils von fremden Verlagen. Jeder Band enthält durchschnittlich drei Titel. Über dieses Reihenwerk berichtet Reinhart Meyer ausführlich in seiner Bibliographia dramatica et dramaticorum, I. Abt., S. 1255–1332. Im folgenden müssen daher genauere bibliographische Angaben unterbleiben, sie sind bei Meyer ausführlich dokumentiert.
Im Jahr 1790 brachte Jahn die ersten acht Bde. heraus, die nächsten vierzehn, die Bde. 9–22, erschienen im Jahr 1791, die nächsten dreizehn, die Bde. 23–35, folgten 1792, die Bde. 36–47 1793, neun weitere Bände, 48–56, kamen 1794 heraus, und im Jahr 1795 waren es nur vier, die Bde. 57–60. Bei dieser Erscheinungsfolge fällt beim ersten Blick auf, dass im zuletzt genannten Jahr 1795 mit nur vier Neuerscheinungen die bei weitem geringste Anzahl von Bänden zu verzeichnen ist. Wodurch erklärt sich dieser jähe Abfall der Bücherproduktion?

Im selben Jahr 1795 nahm sich Wallishausser die Theatralische Sammlung als Vorbild, um in nur einem einzigen Jahr gleich viel Bände herauszubringen wie Jahn in den letzten sechs Jahren von 1790–1795, eine große Leistung für Wallishausser, der in der Zeit vor 1800 noch keine eigene Druckerei besaß und für die Produktion so vieler Bände Kredite aufnehmen mußte, wie im einleitenden verlagsgeschichtlichen Abschnitt ausgeführt wurde.
Somit standen dem Lesepublikum im Jahr 1795 nicht nur eine, sondern sogar zwei 60bändige Theaterstücksammlungen zur Verfügung, eine von Jahn, die andere von Wallishausser.
Wallishausser schaffte es sogar trotz seiner bereits in den Vorjahren angespannten finanziellen Situation, in einem einzigen Jahr die große Anzahl von 60 Bänden herauszubringen.
Jahn reagierte auf die plötzlich entstandene starke Konkurrenz, indem er im Jahr 1796 fast eben so viele, nämlich fünfundfünfzig Bände seiner „Theatralischen Sammlung“ erscheinen ließ, und zwar elf mit der Datierung 1796 und vierundvierzig absichtlich rückdatiert auf 1791. Es kann sich bei so vielen Bänden keinesfalls um einen Druckfehler handeln, es muß sich also bei der Rückdatierung um Absicht gehandelt haben. Es erhebt sich die Frage, warum Jahn diese in der Geschichte der deutschsprachigen Verlage wohl einmalige oder zumindest außerordentlich seltene Maßnahme getroffen hat. Da sich die Frage nach derzeitigem Wissensstand nicht beantworten läßt, schlägt der Verfasser der vorliegenden Studie folgende Arbeitshypothese vor: Es kann für Jahn nicht angenehm gewesen sein, wenn er als Besitzer einer alteingesessenen und gut eingeführten Buchhandlung und Buchdruckerei [vgl. Dustmüller I, 233], mit der Tatsache konfrontiert wird, dass ein Branchenneuling binnen Jahresfrist gleich viel Bände erscheinen läßt wie er selber im Verlauf von sechs Jahren. Vielleicht wurde Jahn von Kunden und auch anderen Buchhändlern darauf angesprochen, dass sein Konkurrent Wallishausser offensichtlich im Begriff ist, ihn zu überholen.
Leider lässt sich zu dieser seltenen und interessanten Konstellation auf dem Büchermarkt kein Archivmaterial auftreiben. Was hat Wallishausser veranlaßt, auf dem Gebiet des Druckes von Theaterstücken in so großem Stil einzusteigen? Waren es vielleicht kleinere wirtschaftliche Erfolge, die Wallishausser zu diesem riskanten Schritt bewogen haben? Fest steht nur, dass Jahn mit einem Befreiungsschlag reagierte und nun ebenfalls in großen Stil seine Bandanzahl erhöhte. Dies geschah vor allem durch Ankäufe von Theaterstücken aus Fremdverlagen, um den Käufern durch die hohe Bandanzahl und die enorme Auswahl zu beeindrucken und Wallishausser zu übertrumpfen. Binnen nur zweier Folgejahre, 1797 und 1798, setzte Jahn seine Serie bis zur Bandzählung Nummer 272 fort, wobei einige Bände, wie weiter unten näher ausgeführt, in textunterschiedlichen Varianten erschienen.
Wallishausser war offensichtlich finanziell erschöpft, er konnte keine weiteren Bände seiner „Wiener Theater-Bibliothek“ mehr herausbringen. Er annoncierte seine Reihe noch bis zum Jahr 1805, Meyer vermutet (allerdings ohne nähere Beweise vorzulegen), dass die Bände seiner Reihe „offenbar verramscht“ wurden. Es versteht sich von selbst, dass der damalige Büchermarkt in Wien mit den vielen Bänden von Jahns „Theatralischer Sammlung“ und auch Wallishaussers „Wiener Theater-Bibliothek“ überschwemmt gewesen sein muss, sodass eine verbilligte Abgabe durchaus plausibel erscheint.

Insgesamt rund 335 Bde. mit rund 1000 Titeln
Die Bandzählung der „Theatralischen Sammlung“ hört bei der Nummer 272 auf. Die wirklich erschienene Zahl von Bänden ist freilich noch größer. Von 27 Bänden der „Theatralischen Sammlung“, (und zwar 173–177, 183, 191, 198, 199, 200–217), erschienen zwei völlig verschiedene Ausgaben, und von 18 Bänden, (178–182, 184–190, 192–197), sogar drei, sodass insgesamt also 63 Bde. zur fortlaufenden Bandzählung von 272 Bdn. zu addieren sind, es erschienen demnach insgesamt 335 Bde. mit rund 1000 Theaterstücken.
Da nicht auszuschließen ist, daß außer den von Reinhart Meyer für seine Bibliographia dramatica et dramaticorum eingesehenen Exemplaren der TS noch weitere Bde. auftauchen könnten, sind alle Zahlen als Ungefährangaben anzusehen.
Jahn druckte mehr als dreihundert Einzeltiteln der „Theatralischen Sammlung“, wenn man die Drucke für den Logenmeister und den Gemeinschaftsverlag Jahn und Logenmeister zusammenzählt, und brachte damit etwa ein Drittel aller Titel ein.

Nur wenige Jahre nach der Gründung seines Verlages war Wallishausser bereits derjenige Fremdverlag der „Theatralischen Sammlung“, der mit den meisten Titeln vertreten war.

Wallishausser
47
Kurzböck
21
Schmidt
19
Goldhann
12
Trattner
12
Diesbach
11
Crusius
10
Hartmann und Logenmeister
9
Imhof
7
Kaiserer
7
Kraus (oder Krauß)
7
Hauth
6
Hartmann
4
Schönfeld-Meißner
4
Stage
4
Fleischer
3
Ghelen
3
Langen
3
Pech
3
Ritscher
3
Schmieder
3
Siedler
3
Gebhard und Körber
2
Ludwig
2
May(e)rs se(e)l. Erbin
2
Schönfeld
2
Schwan und Götz
2
Strobl
2
Suara
2
Taubstummen-Institut
2
Walther
2

Verlage, die nur einen einzigen Einzeltitel zur „Theatralischen Sammlung“ beisteuerten waren die von Bartsch, Bechtold, Berger und Boedner, Brandt, Brunner, Bullmann, Dannbach, Flörke, Gebauer, Gehra, Ghelen und Logenmeister, Göschen, Gräff, Gräffer, Gutsch, Hamann, Hartknoch, Hartung, Helwing, Hermstädt, Hilschern, Hof- und Waisenhaus-Buchhandlung, Hummel, Kaffke, Körber und Gebhard, Kort, Korten, Lentner, Levrault, Löffler, Logenmeister und Ghelen, Lübecksche Hofbuchhandl., Lübeks Erben, Mahler, Matthiessen, Maurer, Mausberger, Meyer und Patzowsky, Miller, Neumann, Neumann, Nicolai, Oehler, Orell, Geßner, Füeßlin und Comp., Patzowsky, Pfähler, Rehm, Röder, Rothens Wittwe, Rottmann, Rötzl, Salzer, Schmidbauer, Schmidtbauer, Schneider, Schneider, Schröder, Schulz, Severin, Styx, Trötscher, Unger, Wallisser, Eßlinger, Jacobäer, Widemann und Wiesen.

Insgesamt war Wallishausser demnach als Alleinverleger mit 47 Einzelpublikationen an der „Theatralischen Sammlung“ vertreten, das sind etwa 4,7 % aller Einzeltitel.

Liste der Theaterstücke der „Theatralische Sammlung“ aus dem Verlag J. B. Wallishausser in der Reihenfolge des Erscheinens der Einzeltitel

Band Nr.
Erschein.-jahr
Verfasser
Titel
Erscheinungs-
jahr des
Einzeltitels
177b
1798
[Goethe]
Natürliche Tochter
1788
236
1799
Eberl
Die Wirthin mit der schönen Hand
1788
237
1797
[Goethe]
Natürliche Tochter
1788
96
1791 [recte: 1796]
Eberl
Das verdächtige Gewerbe
1789
169
1796
Eberl
Das verdächtige Gewerbe
1789
192a
1798
[Dahlberg]
Oronooko
1789
132
1796
Hensler
Alles weis, nichts schwarz
1790
185a
1796
Hensler
Der Invalide
1790
174a
1796
Hensler
Das tapfere Wienermädchen
1791
171
1796
Möller
Wikinson und Wandrop
1792
174a
1796
Schröder
Heimliche Heyrath
1792
146
1796
Hagemann
Der Maytag
1793
76
1791 [recte: 1796]
Armida und Rinaldo
1793
113
1791 [recte: 1796]
Huber
Julchen
1793
113
1791 [recte: 1796]
[Meyer]
Taps
1793
134
1796
Ziegler
Fürstengröße
1793
146
1796
Clesheim
Prüfung und Frauengeduld
1793
171
1796
Jünger
Freundschaft und Argwohn
1793
185a
1796
A. H.
Der Feuerlärm
1793
188b
1798
Clesheim
Prüfung und Frauengeduld
1793
195a
1798
Huber
Julchen
1793
255
1797
[Meyer]
Taps
1793
66
1796
Hensler
Die schöne Ungarin
1794
72
1791 [recte: 1796]
[Collin]
Scheinverbrechen
1794
96
1791 [recte: 1796]
[Beck/Beil]
Die Quälgeister
1794
98
1791 [recte: 1796]
Kalchberg
Wülfing von Stubenberg
1794
113
1791 [recte: 1796]
Kratter
Alexander Menzikof
1794
115
1791 [recte: 1796]
[Klesheim]
Herr Spul
1794
135
1796
Hensler
Ritter Willibald
1794
150
1796
Gruttschreiber
Siri Brahe
1794
154
1796
So handeln Freunde
1794
177b
1798
Kalchberg
Wülfing von Stubenberg
1794
181a
1796
[Weidmann]
Der Jugendfehler
1794
182a
1798
[Collin]
Scheinverbrechen
1794
206b
1797
Schink
Der verlorne Sohn
1794
208a
1797
[Weidmann]
Die Jugendfehler
1794
208a
1797
[Collin]
Scheinverbrechen
1794
63
1796
[Hensler]
Der Waldgeist
1795
65
1796
Hensler
Der Denkpfennig
1795
164
1796
[Blümner]
Die Rache
1795
168
1796
Henßler
Alles in Uniform für unsern König!
1795
184b
1798
[Blümmer]
Die Rache
1795
67
1796
Kotzebue
Die Spanier in Peru
1796
157
1796
[Stephanie d. J.]
Die Freywilligen
1796
177a
1796
[Cramer]
Der braune Robert
1796
185a
1796
Ziegler
Die Freunde
1797

Die Tatsache, dass Jahn viele Theaterstücke aus dem Verlag Wallishaussers in die Reihe aufnahm, scheint darauf hinzudeuten, dass es zu einer gütlichen Einigung zwischen den beiden Konkurrenten gekommen ist. Man muss freilich deutlich darauf hinweisen, dass dieser naheliegende Rückschluß durch nichts zu beweisen ist und dass es sich auch ganz anders verhalten haben könnte: Vielleicht bezog Jahn einen Teil der Wallishausser-Stücke auch aus einer der Zwangsversteigerungen, die Wallishausser an den Rand des Ruin gebracht haben. Leider sind von diesen Akten im Wiener Stadt- und Landesarchiv nur einige Bruchstücke erhalten, es könnte durchaus sein, dass noch wesentlich mehr Aktenmaterial, das Aufschluß auf diese Frage hätte geben können, verloren gegangen ist.