Rede zur Buchpräsentation
Matthias J. Pernerstorfer (Don Juan Archiv Wien)
Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien…
Aus der Tschechischen Theaterenzyklopädie
in die Theatergeschichte Österreichs übersetzt
Schon bald nach Veröffentlichung der ersten, tschechischsprachigen Ausgabe des Lexikons Starší divadlo v českých zemích do konce 18. století – Osobnosti a díla [Altes Theater in den böhmischen Ländern bis zum Ende des 18. Jahrhunderts – Persönlichkeiten und Werke] im Jahre 2007 wurde der Ruf nach einer Übersetzung laut. Nur zu verständlich, wollten doch auch alle nicht des Tschechischen mächtigen Kolleginnen und Kollegen Zugang zu dem darin versammelten Material und den Ergebnissen der jahrzehntelang intensiv betriebenen theaterhistorischen Forschung in der Tschechoslowakei bzw. in Tschechien bekommen.
So blieb vonseiten des Kabinetts für die Erforschung des tschechischen Theaters zu klären, in welche Sprache übersetzt werden sollte. Ins Englische als international verständliche Sprache oder ins Deutsche als Sprache eines Großteils der Quellen? Da für fast alle, die sich mit dem Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien vor 1800 wissenschaftlich auseinandersetzen, eine Kenntnis des Deutschen angenommen werden darf, ging die Entscheidung in diese Richtung.
Die Wahl, wo denn das übersetzte Lexikon erscheinen sollte, wurde erleichtert durch eine entsprechende Einladung des Instituts für Kulturwissenschaft und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, diesen Band der Česká divadelní encyklopedie [Tschechischen Theaterenzyklopädie] in der Theatergeschichte Österreichs herauszubringen. Eine gute Wahl, sind in dieser Reihe doch zahlreiche theaterhistorische Standardwerke erschienen, nicht zuletzt Adolf Scherls Berufstheater in Prag 1680–1739 im Jahre 1999.
Was ist nun mit dem Lexikon im Zuge seiner Übersetzung passiert?
Vorab eine Selbstverständlichkeit: Ein Lexikon ist kein literarisches Werk. Es ist von Anfang an klar gewesen, dass es sich nicht um die Übersetzung eines abgeschlossenen Werkes in eine andere Sprache handeln würde, denn die Arbeit am Lexikon hat in Tschechien zahlreiche Forschungen ausgelöst, deren Ergebnisse teilweise in die erste Ausgabe nicht eingearbeitet werden konnten, die aber für die zweite Ausgabe unbedingt berücksichtigt werden sollten. D.h. schon in Prag hatte Alena Jakubcová eine intensive redaktionelle Arbeit begonnen – teilweise, und das finde ich sehr schön, bereits in Zusammenarbeit mit einer neuen Generation von Forscherinnen und Forschern.
Zudem sollte in der deutschsprachigen Ausgabe die internationale Literatur noch stärker eingearbeitet werden. Dem Anliegen wurde durch die Hinzuziehung eines Beirats von Kolleginnen und Kollegen aus Österreich und Deutschland Rechnung getragen: Bärbel Rudin, Andrea Sommer-Mathis und Hubert Reitterer.
Das Engagement dieses Beirats ist deutlich über eine beratende Funktion und ein sorgfältiges Lektorat hinausgegangen. Durch Bärbel Rudin erhielten vor allem die zahlreichen Artikel zu Personen der Wandertruppen bzw. – um in ihrer Terminologie zu bleiben – des „ambulanten Gewerbes“ ein neues Gesicht: Sie steuerte eine Fülle von publizierten wie unpublizierten Funden und Interpretationen bei und führte damit vor allem die Beiträge von Adolf Scherl (der die Arbeit daran stets begleitete) und dem 2008 verstorbenen Otto G. Schindler fort. Hubert Reitterer wiederum durchkämmte die Wiener Archive unter anderem nach Tauf- und Sterbematrikeln und konnte eine ganze Reihe offener oder kontroversiell diskutierter Fragen beantworten. Andrea Sommer-Mathis konnte besonders durch ihre Expertise im Bereich der höfischen Fest- und Theaterkultur beitragen.
Die Aufgaben der Herausgeber waren – abgesehen von der Einbringung eigener Forschungsergebnisse – die Sichtung, Prüfung und Einarbeitung des neu gewonnenen Materials. Die Zusammenführung erfolgte im Manuskriptstadium durch Alena Jakubcová und während des von Art Quarterly (Nikolaus Köhler und Daniela Brendler) durchgeführten Layoutprozesses durch Matthias J. Pernerstorfer. Alena Jakubcová erstellte auch das Abbildungsverzeichnis und die Register und unterzog das Lexikon im Zuge dieses Arbeitsganges einer abschließenden Kontrolle.
Das heute präsentierte Buch ist eine umfassend neu bearbeitete, um einige Register ergänzte deutschsprachige Ausgabe seiner tschechischsprachigen Vorlage. Doch wie sehr hat es sich davon emanzipiert? Oder besser gesagt: Wie sieht es mit der Autorschaft aus? Eine Frage, deren Konsequenzen ich mit Blick auf die Gestaltung des Covers kurz behandeln möchte, da sie die Herausgeber vor eine heikle Aufgabe gestellt hat.
Blicken wir zuerst auf die erste Ausgabe.
Hier finden sich:
Titel (Starší divadlo v českých zemích do konce 18. století – Osobnosti a díla)
Reihentitel (Česká divadelní encyklopedie)
Herausgeberin (Alena Jakubcová a kolektiv)
Verlage (Divadelní ústav / Academia)
Exakt diese Informationen zu übersetzen, hätte zu folgendem Ergebnis geführt:
Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien…
Theatergeschichte Österreichs
Hg. von Alena Jakubcová und Matthias J. Pernerstorfer
Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Auf den ersten Blick hätte jeder glauben können, es handle sich um ein neu verfasstes Buch.
Noch fragwürdiger wäre es gewesen, hätten wir – was doch hin und wieder vorkommt – auf dem Titelblatt hinzugefügt: „Herausgegeben in Zusammenarbeit mit…“. Damit wäre die Tatsache der Existenz einer monumentalen Vorlage völlig verwischt worden.
Als uns das bewusst geworden ist, haben wir in vierfacher Hinsicht reagiert:
1. wurde Adolf Scherl, der an der ersten wie an der zweiten Ausgabe kontinuierlich beteiligt war, in der Reihe der Namen des Beirats aufgenom-men.
2. wurde, anders als in der Theatergeschichte Österreichs üblich, der Band als Kooperation zwischen dem Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und dem Institut umĕní – Divadelní ústav herausgegeben (ergänzt sei: davor war der Bedarf nach einer solchen Kooperation nicht vorhanden).
3. übten wir uns bei der Covergestaltung in Zurückhaltung. Es prangt nun keine Person oder Institution auf dem Titelblatt – wichtige Informationen finden sich auf der Rückseite des Buches: die Logos beider Institutionen und der Titel der tschechischsprachigen Erstausgabe.
4. lag die Entscheidung, durch welches Titelbild das Theater in Böhmen, Mähren und Schlesien repräsentiert werden sollte, bei den Kolleginnen und Kollegen in Prag.
Damit ist hoffentlich gewährleistet, dass die „translatio“ des Lexikons aus der Česká divadelní encyklopedie in die Theatergeschichte Österreichs nicht als ein Akt retro-imperialer Aneignung ist. Das soll und kann sie auch nicht sein. Denn Hubert Reitterers Funde in Wiener Archiven machen zweierlei deutlich: Erstens sind viele Quellen in Wien unbearbeitet. Das ist zwar nichts Neues, lässt sich aber zweitens nicht zuletzt dadurch erklären, dass die quellenbasierte und personenbezogene Forschung zur Geschichte des Theaters im 18. Jahrhundert in Österreich in den 1980er Jahren ins Stocken geraten ist. Jedenfalls gibt es in Österreich seit einiger Zeit keine vergleichbare Infrastruktur für derartige Forschungen wie sie in Prag, aber etwa auch in Brünn mit Teams von bis zu 50 Personen (wie im Fall unseres Lexikons) zu einer Großpublikation nach der anderen führt.
Großflächig personenbezogene Daten zu sammeln und zu publizieren steht in Österreich nicht allzu hoch im Kurs – zumindest mit Blick auf das Theater (bei der Musik ist das anders). Historisch orientierte Forschungsprojekte laufen in erster Linie im Umfeld von Textedition und -interpretation. Die Internationale Nestroy-Gesellschaft ist hier das beste Beispiel, doch auch Professor Hulfelds Projekt zu – entschuldigen Sie die Verknappung – Haupt- und Staatsaktionen aus dem Bestand der Wienbibliothek im Rathaus gehört hierher.*
In diesem Sinne bleibt zu hoffen, dass von dem heute präsentierten Lexikon, das viele Fragen zur österreichischen Theatergeschichte beantwortet, aber auch markante Forschungsdesiderate zur österreichischen Theatergeschichte sichtbar macht, ein kräftiger Impuls ausgeht – auf die Forschung in Österreich im Allgemeinen wie auf die Theatergeschichte Österreichs im Speziellen. Als erste Publikation in der Reihe seit fast zehn Jahren stellt dieses Lexikon eine gewisse Verpflichtung dar. Läutet es vielleicht den Beginn einer neuen Ära ein? Die Präsentation des Buches in den wunderbaren Räumlichkeiten des Theatermuseums möchte ich als ein gutes Omen dafür werten.
Vielen Dank.
* Diese Gegenüberstellung verstehe ich als Kurzdiagnose der Forschungs(förderungs)situation in Tschechien und Österreich. Es geht mir nicht darum, zu werten oder das eine gegen das andere auszuspielen. Beide Aspekte sind für die Erschließung und Interpretation der Theatergeschichte von Bedeutung.